7.Kapitel

 

Ein Blitz fuhr hernieder und erleuchtete für den Bruchteil einer Sekunde die Gestalten auf dem Spielfeld. Geduckt, mit gefletschten Zähnen ständen sie einander gegenüber.

Ihre schwarz schimmernden Pupillen waren auf einen einzigen Mann gerichtet. Stumm warteten sie ab.

Adam warf einen raschen Blick nach links. Er packte den Rugby-Ball fester in der sternförmigen Griffvertiefung, holte mit dem rechten Bein aus und trat zu. Der Ball flog hoch, hoch in den Himmel, der Blick der Zuschauer und der Spieler folgte ihm, wie er an den flatternden Fahnen des Murrayfield Rugby Stadions vorbeiflog und in den dicken Wolken verschwand, die über den Nachthimmel zogen.

Sechzehn Sekunden. So viel Zeit hatte er, bis der Ball wieder an genau der gleichen Stelle herunterkommen würde.

Los geht's.

Das Spiel begann ohne Vorwarnung. Adam wich einem Angreifer aus, der von links kam. Doch schon tauchte Cem neben ihm auf, dahinter seine Mannschaftskameraden in einer 3-4-Formation. Cem packte den angreifenden Vampir beim Kragen und brachte ihn zu Fall. Adam hob den Hingefallenen hoch und schleuderte ihn beiseite. Einer aus ihrer Mannschaft warf sich auf ihn, um sicherzustellen, dass er auch wirklich aus dem Spiel war.

Noch zehn Sekunden.

Ein krachender Donnerschlag, aber auf dem Murray-Spielfeld herrschte eine geradezu unheimliche Stille.

Adam rannte weiter. Schlammiges Wasser troff von seinen Haaren, seine Beinmuskeln brannten. Er warf sich zur Seite, brachte einen weiteren Angreifer zu Fall. Er sprang auf und schaute sich um. Cem hatte zwei zu Boden gerungen.

Die anderen Jungs schienen die gegnerische Mannschaft im Griff zu haben. Nur noch einer blieb übrig.

Der Seebarsch.

Noch sieben Sekunden.

Der französische Vampir schaute grinsend zu ihm herüber. Er stand genau an der Stelle im Mittelfeld, wo der Ball wieder herunterkommen würde. Adam erwiderte sein Grinsen. Der Seebarsch war der beste Spieler des Westclans - mit ihm fertig zu werden war eine höllische Herausforderung.

Adam blieb einen Augenblick lang reglos stehen und musterte seinen Gegner: lange, nasse Haare, nackter Oberkörper, aufrechte, stolze Haltung, breitbeinig, Gewicht auf dem linken Fuß, Hände locker an den Seiten herabhängend. Adam begann zu rennen, direkt auf seinen Gegner zu, schneller als menschenmöglich. Als er nur noch wenige Schritte von dem Mann entfernt war, warf er sich zu Boden und schlitterte direkt in sein linkes Bein, brachte den Gegner zu Fall.

Noch vier Sekunden.

Der Seebarsch wollte wieder aufspringen, doch Adam hatte ihn bereits bei seinen langen Haaren gepackt und gab ihm nun einen mächtigen Schwinger unter den Brustkasten, der ihm den Atem raubte. Der Seebarsch schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und sackte zu Boden.

Noch eine Sekunde.

Adam schaute zum Himmel - und der Ball fiel ihm in die Arme, wie dem armen Waisenkind die Sterntaler. Er fuhr herum, rannte auf die Ziellinie zu. Cem tauchte lachend neben ihm auf. Kurz vor der Linie blieb er abrupt stehen. Vampir.Rugby wurde lautlos gespielt, aber gegen einen kleinen telepathischen Meinungsaustausch konnte niemand etwas einwenden. Adam reichte den Ball an Cem.

Ich finde, du solltest diesmal den Cup für uns sichern, mein Freund.

Cem nickte. Bringen wir's zu Ende!

Cem trat über die Linie und warf den Ball zu Boden. Die Zuschauer sprangen von den Sitzen auf und schwenkten jubelnd die Fähnchen des Nordclans. Der Osmane bückte sich, nahm den Ball und reckte ihn hoch in die Luft.

Doch dann erstarb sein Lächeln.

Was ist?, wollte Adam wissen.

Cem antwortete nicht; das brauchte er auch gar nicht.

Adam folgte seinem Blick. Da stand Victoria, in einer der vordersten Reihen, und schwenkte begeistert ein Fähnchen. Neben ihr stand ein hochgewachsener Mann.

Adam wischte sich den Regen aus den Augen. Das ist dann wohl Sam?

Cem nickte. Ich weiß nicht... ich mag den Mann nicht.

Irgendwas stimmt nicht mit ihm.

Adam legte seine Hand auf Cems Schulter. Na, dann lass uns mal zur Rettung schreiten, was?

Cem schnaubte.

Dich meine ich, mein Freund. Wenn einer gerettet werden muss, dann doch du.

Adam duckte sich grinsend, und Cems Hieb ging daneben.

»Ich hatte solche Angst! Diese Kerle aus dem Westclan, das sind ja Riesen!«

Victoria klammerte sich an den Arm ihres Mannes. Ihre anfängliche Begeisterung wich einer immer größer werdenden Nervosität.

Adam konnte es ihr nicht vorwerfen. Sie war das einzige menschliche Wesen im Club V.

Mit ihr in den Club zu gehen war Sams Idee gewesen.

Victoria war zunächst ganz begeistert davon gewesen, doch jetzt, wo sie hier waren, wurden ihre Augen von Sekunde zu Sekunde größer. Angstlich schaute sie sich in dem unterirdischen Raum um.

»Na, so riesig waren sie auch wieder nicht«, widersprach Cem und zog Victoria fester an sich.

»O doch!«, riefVictoria energisch aus, doch dann wechselte sie plötzlich das Thema. Sie reckte den Hals. »Ist so eine Aufmachung hier üblich bei Frauen? Ähm, Vampirfrauen?«, wollte sie wissen.

Adam folgte ihrem Blick. Weiter hinten an der Bar servierte Colin, der Barmann, soeben drei Frauen in unerhört knappen schwarzen Fähnchen, ohne BH und möglicherweise sogar ohne sonstige Unterwäsche, Gläser mit Froschblut, ein beliebtes Aphrodisiakum.

»Nicht bei allen«, versuchte Adam sie zu beruhigen.

»Aber bei den meisten?« Victoria ließ nicht locker.

Da Cem sich stirnrunzelnd in Schweigen hüllte, war es an Adam, die Erklärungen zu übernehmen.

»Vampire sind nicht so, ahm, konservativ, was ihre Sexualität betrifft, wie Menschen. Wenn Vampirfrauen in solcher Kleidung in den Club kommen, sind sie gewöhnlich auf der Suche nach einem Sexualpartner.«

Victoria war geschockt. »Du meinst, die Männer können sie einfach ansprechen und mitnehmen? Wie ein Spielzeug?«

»Victoria, jetzt hol bitte nicht die feministische Fahne raus«, sagte Cem und merkte erst, als seine Worte heraus waren, dass das die falsche Antwort war. Seine Frau musterte ihn erbost.

»Ganz und gar nicht«, warf sich Adam in die Bresche.

Er bedachte seinen Freund mit einem Du-bist-ein-Idiot-Blick. Victoria war in einer männlich dominierten Gesellschaft groß geworden. Es würde nicht leicht für sie werden, die Gepflogenheiten von Vampiren zu akzeptieren.

Hier waren beide Geschlechter wirklich und wahrhaftig gleichberechtigt. Ein männlicher Vampir hatte nicht mehr Rechte als ein weiblicher. Wenn überhaupt, so wurde ihre Gesellschaft von der weiblichen Seite dominiert.

»Du wirst bald lernen, dass in unserer Gesellschaft eher die Frauen das Sagen haben«, erklärte Adam Victoria. »Diese Frauen dort wählen sich ihre Partner, nicht umgekehrt.

Kein Mann wird es wagen, sich ihnen von sich aus zu nähern.

Er muss warten und hoffen, dass sie auf ihn zukommen.«

»Wie wahr«, bemerkte Sam und setzte sich an ihren Tisch. Cem runzelte die Stirn, aber der blonde Vampir schien es nicht zu bemerken. An Adam gewandt fuhr er fort: »Habt ihr unserer Victoria hier schon die Ablehnungsrechte erklärt?«

»Ablehnungsrechte?« Victoria runzelte verwirrt die Stirn. »Was soll das heißen?«

Jetzt wusste Adam, was Cem gemeint hatte, als er sagte, etwas stimme nicht mit dem Mann. Dieser Sam ... er schien etwas im Schilde zu führen.

»In vielen Vampir-Zeremonien bekräftigen wir die Freude am Leben«, erklärte Sam, in seine Lehrerrolle verfallend.

»Ach ja.« Victoria errötete. Offenbar wusste sie bereits, was darunter zu verstehen war.

»Und bei solchen Zeremonien, einer Begräbniszeremonie zum Beispiel, ist sozusagen Damenwahl, um einen menschlichen Ausdruck zu gebrauchen«, sagte Sam süffisant. Cem hatte sich während dieser Worte mehr und mehr versteift, was Sam nicht zu bemerken schien. Oder bemerken wollte.

Wollte der Vampir Cem absichtlich provozieren?, fragte sich Adam. Er war nicht sicher. Es konnte ja sein, dass er nur seiner Aufgabe als Victorias Lehrer nachkam. Sie musste schließlich alles über den Alltag und das Leben eines Vampirs lernen.

»Und der Mann darf Nein sagen? Ist es das, was ihr mit ›Ablehnungsrecht‹ meint?«, erkundigte sich Victoria.

»Fast.« Sam zwinkerte ihr zu. »Die meisten Männer dürfen nämlich nicht Nein sagen. Nur Clanoberhäupter, sonstige Anführer und natürlich die Friedenshüter, wie Adam hier, haben dieses Recht.«

»Und du?«, fragte Victoria ihren Mann.

Jetzt begriff Adam, was vorging. Seine Augen wurden schmal, als er seine Hand auf Sams Schulter fallen ließ.

»Ich glaube, da hat jemand nach Ihnen gerufen, mein Freund.«

Sam nickte grinsend. »Da könnten Sie recht haben«, sagte er, höchst zufrieden mit sich, stand auf und ging.

Aber der Schaden war bereits angerichtet.

»Schau mich nicht so an, Victoria!«, protestierte Cem erschrocken. »Du weißt ganz genau, dass du die Einzige für mich bist!«

»Aber was ist, wenn du an einer Zeremonie teilnehmen musst? An einer Beerdigung oder an einem Mündigkeitsritual? Die Teilnahme ist zwingend, das haben wir bereits gelernt. Und was dann? Kann dann jede daherkommen und dich zwingen, mit ihr zu gehen?« Victoria klang zutiefst verletzt.

Adam war wütend. Er hätte diesem Mistkerl Sam am liebsten den Hals umgedreht.

»Nicht, wenn der Vampir bereits eine Lebenspartnerin hat, Liebling«, versuchte Cem seine Frau lächelnd zu beschwichtigen. Das stimmte zwar, aber laut Vampirgesetz würde Victoria erst nach ihrer Transformation als Cems offizielle Lebenspartnerin anerkannt werden.

Und das schien sie, zu Cems Unglück, genau zu wissen.

»Versuch nicht mich auszutricksen, Professor Bilen!

Deine »Lebenspartnerin* werde ich erst in zwei Wochen sein!«

Dazu fiel Cem nichts mehr ein. Verzweifelt zog er seine Frau an sich und warf Adam über ihren Kopf hinweg einen hilflosen Blick zu.

Und gerade, als Adam schon glaubte, das Schlimmste sei vorüber, glitt eine der drei Frauen von ihrem Barhocker und kam, den Blick fest auf Cem geheftet, auf ihren Tisch zu.

Das konnte kein Zufall sein. Die meisten Frauen suchten sich keinen Mann, der so offensichtlich gebunden war wie Cem. Was Sam bequemerweise zu erwähnen vergessen hatte, war, dass in Vampirbars dieselben Gesetze zwischen den Geschlechtern galten, wie bei Zeremonien.

Cem würde die Frau nicht zurückweisen können - und das wusste Victorias Lehrer, der jetzt bei den anderen beiden Frauen saß und sich angeregt mit ihnen unterhielt.

Sam kräftig verwünschend erhob sich Adam und vertrat der Frau den Weg. »Du bist mir gleich aufgefallen.«

Die Frau blieb stehen. Ihre grünen Augen huschten zwischen Adam und Cem hin und her. Sie hatte einen herrlichen Körper, schlank und geschmeidig, mit straffen Brüsten und Lippen, die zum Küssen einluden. Wären da nicht ihre geweiteten Pupillen gewesen - ein Nebeneffekt des Froschbluts -, Adam wäre tatsächlich versucht gewesen, etwas mit ihr anzufangen.

»Aber ich sollte ...«., begann sie, verstummte jedoch, da Adam sie an sich zog.

»Was?«

Sie kicherte. »Ach, nichts. Du gefällst mir sowieso besser.«

Sie fuhr mit ihren roten Fingernägeln über sein Hemd, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

Adam ließ es sich gefallen. Ein Blick über ihre Schulter überzeugte ihn davon, dass Cem, Gott sei Dank, den Rückzug angetreten hatte. Er und Victoria gingen soeben zum Ausgang.

»Ich hab schon so viel von dir gehört«, gurrte die Frau ihm ins Ohr.

»Ach ja?« Jetzt, wo die Gefahr vorbei war, fragte sich Adam, warum er sich kein bisschen zu der Schönheit hingezogen fühlte.

Sie rieb ihre Brüste an ihm und legte den Kopf ein wenig in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können.

Grüne Augen. Aber nicht hell genug.

Nicht hell genug? Was zum Teufel...?

»Sie reden überall über dich, in der ganzen Stadt«, sagte sie. »Dein Ruf eilt dir voraus, Friedenshüter. Besonders bei Frauen.«

Adam konnte es nicht fassen: Warum musste er ausgerechnet jetzt an Madame Foulard denken? An diese stinkende Vogelscheuche, mit ihrem kleisterdicken Make-up? Dann hatte sie eben die schönsten Augen der Welt, na und? Sie war eine Irre, die mit imaginären Geistern sprach und Launen hatte, dass die Milch sauer werden konnte.

Aber das war es ja gerade! Sein Fluch. Er fühlte sich zu verrückten Frauen hingezogen, nur weil sie ihm Rätsel aufgaben. Und empfand nichts für sinnliche Sirenen wie diese hier, die sich wie eine Katze an ihm zu reiben begann.

»Verzeih«, sagte er und wich einen Schritt zurück. »Du bist umwerfend, Schätzchen, aber ich fürchte, ich bin heute Nacht nicht Mann genug für dich.«

Als er sah, wie verletzt sie war, riss er sie an sich und küsste sie, bis ihr die Luft wegblieb.

»Vielleicht ein andermal.«

Die Frau lächelte verträumt und nickte, und Adam machte kehrt und ging.

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Unsterblich 04 - Unsterblich wie der Morgen
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